Dienstag, 16. August 2011

PENINSULA DOWNTOWN/WESTEND

Bevor ich mehr von meinem ersten kleinen Erkundungsgang berichte, der mich kreuz und quer über die downtownsche Halbinsel geführt hat, muss ich noch (jetzt schon!) eine kurze Richtigstellung loswerden: Der Vergleich nämlich, den ich im gestern Geschriebenen zwischen Kalk und dem Stadtviertel (namentlich Strathcona) meiner derzeitigen Unterbringung angestellt habe, war unangemessen, ungerecht, ja schlicht viel zu hart - und zwar Kalk gegenüber. In der Kurzfassung lässt sich das heute Gesehene so ausdrücken:  Ach Du grüne Neune.  
Weil ich aber in geschriebenen Erzählungen nur bedingt ein Freund von Kurzfassungen bin, muss ich das Ganze unbedingt noch ein klein wenig plastischer gestalten: Wenn man eine Woche lang ununterbrochen sämtliche Penner, Drücker, Schlucker von den Straßen Kalks aufsammelt und weils so schön ist, dasselbe auch gleich noch am Wiener Platz in Köln-Mülheim und am Bahnhof Nord in Köln-Chorweiler praktiziert, bekommt man auf diese Weise genügend kaputte Gestalten zusammen um die East Hastings Street zu besiedeln, allerdings nur den Gehweg auf der Nordseite und nur für einen Vormittag und auch nur auf dem Abschnitt zwischen Columbia- und Carrall Street, welcher gerade einmal 200 Meter lang ist. Du glaubst, ich überteibe schamlos? Komm her, sieh' und überzeuge Dich selbst. 
Der genannte Straßenabschnitt ist zugegebenermaßen ein besonderer Brennpunkt, an dem sich mehrere Einrichtungen für die Randexistenzen der sog. zivilisierten Gesellschaft befinden und man trifft sie dort, aber natürlich auch in den Straßen der näheren Umgebung, buchstäblich in Hundertschaften an. Und apropos nähere Umgebung, die Hausnummer 403 (mein Hotel) ist keine 500 Meter von dort entfernt. Wenngleich kein Held, bin ich gewiss auch nicht die vollste Bangbüchs unter der Sonne, aber als ich heute da längsspaziert bin, wurde mir wirklich ein wenig mulmig zumute - vielleicht auch, weil mich der Anblick so unvorbereitet traf. Plötzlich erschien in meinem ansonsten fast nutzlosen Kurzzeitgedächtnis ein kurzer Auszug aus den FAQs der Homepage meines Hotels, der wie folgt überschrieben ist: "Is the neighborhood safe?" Eigentlich war mir schon beim ersten Lesen klar, dass wenn jemand solch eine Frage wahrhaftig in den Katalog seiner Standardfragen aufnimmt, die Antwort eigentlich nur "Nein" lauten kann. Auf der Homepage klingt das (ins deutsche übersetzt) so: "Strathcona ist eine sichere Gegend (...) [die] jedoch, wie die meisten Viertel des lower mainland, einige soziale Probleme hat. Im Unterschied zu jenen Vierteln, gibt es in Strathcona aber auch eine Vielzahl von Einrichtungen für Menschen, die Hilfe brauchen (...)"
Klingt das nicht positiv? Ist es auch, und das meine ich völlig ernst. Es fühlt sich nichtsdestotrotz verdammt unheimlich an, wenn Du ohne Vorwarnung in ganze Schwärme von Menschen gerätst, die offenkundig in dieser Weise hilfsbedürftig sind. Eigentlich gehört dies Erlebnis an das Ende des Kapitels, denn ich habe den Weg über besagten Straßenabschnitt erst auf dem Rückweg von meinem Ausflug genommen, andererseits gehört es aber zur Richtigstellung und überhaupt was solls? Reihenfolgen sind was für Sonntagmorgen-in-der-Bäckereischlange-Ansteher und ich glaube nicht an Sonntagmorgen - weder als real existentes Ereignis, noch als intellektuell verklärendes Konzept. Ja, es gibt Sonntage und also diktiert die Logik, dass sie, wie die anderen Tage auch, mit höchster Wahscheinlichkeit jeweils morgens beginnen. Ich kann mich jedoch nicht an eine derartige wochenendliche Travestie erinnern. Sonntage beginnen, verlaufen und enden stets absolut gleichförmig, lediglich stellenweise unterbrochen von.... wo war ich? Achja richtig, Vancouver.



Kontinentalplatte (geputzt)
Dank Jetlag und zu guter Letzt mehr als 24 Stunden ohne echte Ruhe, schlafe ich wie ein verdauender Säugling und zudem extrem lange aber nicht zu lange in den neuen Tag hinein, sodass ich tatsächlich um 8.30 Uhr morgens gewaschen und gekämmt zum kontinentalen Frühstücksbüfett erscheine, das im Pat's angerichtet wird. Die Vokabel "kontinental" wird im Bezug auf das Frühstück wahrscheinlich je nach Kontinent unterschiedlich ausgelegt und bedeutet in diesem Fall: Brot, Marmelade/Erdnussbutter (o.ä.), Pulverkaffee, Frühstücksflocken in wenigstens zehn Varianten, Orangensaft und Muffins. Nach dem Frühstück begebe ich mich noch einmal in mein Zimmer, um den Reiseführer, den mir die gute @zbrwld vor der Abreise geschenkt hat, zur Rate zu ziehen und Pläne für den Tag zu schmieden. Dazu lege ich mich auf mein Bett und obwohl ich doch eigentlich lange genug geschlafen habe, war es wohl doch noch nicht genug, denn das nächste Mal als ich einen Blick auf die Uhr werfe, ist es plötzlich zwei Uhr soundsoviel am Nachmittag. Um nicht auch noch den Rest des Tages plandenderweise und darüber womöglich nochmals einnickend zu vertun, präge ich mir kurz ein paar Punkte auf dem Stadtplan ein, krame in meinem Gehirn nach Dingen, die ich unterwegs einkaufen muss, schnappe mir meine Tasche und trabe aufs Geratewohl los. Der Tagesplan lautet also, in zwei Worten zusammengefasst: sich verlaufen. 
Solltest Du je hören, dass ich einen Satz mit den Worten "Wenn mich mein Orientierungssinn nicht trügt..." beginne, kannst Du den Rest getrost überhören, denn da gibt es nichts, was mich trügen könnte. Trotz dieser unbestreitbaren Tatsache gelang es mir hier selbst nach Stunden nicht, mich richtig gründlich zu verlaufen, was zum einen an der amerikanischen Art der Piffpaff-Straßenordnung liegt - entweder es geht piff (ost-west) oder paff (nord-süd), aber so gut wie nie pöff, päff, poiff oder pmpff - zum anderen liegt es daran, dass man für Hirnis wie mich ausreichend Stadtpläne in Plakatform aufgehängt hat. Zudem ist die Innenstadt-Halbinsel nicht sooo furchtbar riesig. 
Zunächst biege ich von der Hastings in nördlicher Richtung nach Gastown ab, das ich gestern als ausgemachtes Touristenviertel abgestempelt habe, was zwar keiner Richtigstellung aber des Zusatzes bedarf, dass dies zugleich auch das älteste Viertel der Stadt ist - enstanden um 1860, altehrwürdige Geschichte also über deren Altehrwürdigkeit der hochnäsige Europäer womöglich milde lächelt. Das Zentrum des touristischen Interesses an Gastown bildet eine ein paar Meter hohe, freistehende Uhr, die dem englischen Big Ben nachempfunden ist und zu jeder Viertelstunde auch die Melodie des großen englischen Bruders abspielt. Die Melodie wird in der kanadischen Kleinausgabe allerdings nicht von einem Glockenspiel erzeugt, sondern von dampfbetriebenen Orgelpfeifen, weshalb die Installation den sinnreichen Namen Steamclock trägt. Wer jetzt denkt, der Onkel spinnt sich wieder spaßige Geschichten zusammen (das geht schon in Ordnung, mach ich ja auch oft genug) klickt bitte sofort auf den lustigen Lilalink. 
Hier steht man nun im Kreis herum und starrt andächtig den lieben langen Tag auf die tuffige Dampftröten-Ticktack... und man steht... und man starrt...
Das ganze erinnert mich an meine frühere Heimatstadt, wo auf dem Rathausdach zu jeder vollen Stunde ein mechanischer Gockel kräht (nunja, ein Geräusch macht, das entfernt an Gockelkrähen erinnert) und die vielen kleinen Toshis und Yoshis auf dem Rathausplatz in einen wahren Knipsrausch versetzt. Das so etwas in Zeiten von 3D-18Kanal-Aufdie12-Gefühlsecht-Multimedia immer noch ein Publikum begeistert, finde ich irgendwie beruhigend.


Und ich stehe... und ich starre... NICHT, sondern gehe an den im kultischen Kreis formierten, genickerstarrten Uhrtieren vorüber, als wäre ich James Watt selbst und auf dem Weg zu einer wirklich wirklich wichtigen Dampfmaschinentagung. Ansonsten sieht Gastown genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Alles was man hier käuflich erwerben kann, ist entweder mit dem Bild der Steamclock oder aber wenigstens mit einem Ahornblatt bedruckt und es gibt so viele Cafes und andere Gaststätten, dass man sie beinahe übereinander stapeln musste, um sie in dem kleinen Viertel unterbringen zu können. Mein weiterer Weg führt mich wieder in westlicher Richtung über die Cordova Street, vorbei am Vancouver Lookout - ein Hochhaus, dessen Dach man begehen kann (was ich vielleicht später einmal mache) - durch die Howe Street zum Canada Place, der ein Kongresszentrum nicht nur für Dampfmaschinentagungen ist. Von dort aus kann man auf das Burrard Inlet schauen - eine Bucht, die Vancouver von North Vancouver (quasi der Schäl Sick) bzw. West Vancouver trennt und ich schlendere weiter am Wasser entlang, vorbei am Yachthafen und sonstigen Anlegestellen für Wassertaxis und dergleichen, bis ich zum Stanley Park komme. Mit einer Grundfläche von rund 400 Hektar ist dieser Park in etwa genau so groß wie Downtown und das Westend zusammen und steht heute noch nicht auf meinem Programm, also biege ich nach Süden ab, bis ich auf der Robson Street lande, die sich selbst mit der Bezeichnung "Vancouver's Runway" (Vancouvers Laufsteg) schmückt. So etwas wie einen Ku'damm oder eine Hohe Straße gehört zu einer jeden größeren Stadt nun einmal dazu. Hier verselbstständigen sich wieder einmal meine Medienfuzzi-Augen und registrieren interessante Marketingansätze diverser Geschäfte. Da gibt es z.B. ein Restaurant für seafood, das in einer weich geschwungenen Schreibschrift und in großen Lettern stolz das Wörtchen KILLER auf dem Frontschaufenster trägt. Ob sie dort ihre Fische wohl selbst umbringen? Dann gibt es einen Verleih von Elektro-Fahrrädern mit dem Namen "ZAP e-bikes". Für die Nicht-Comicleser sei an dieser Stelle erklärt, dass man die Lautmalerei ZAP immer dann in jener Literaturform verwendet, wenn jemand einen elektrischen Schlag bekommt oder vom Blitz getroffen wird. Nochmals: Elektro-Fahrräder! Putzig, nicht? Weiterhin entdecke ich einen Friseurladen mit der Aufschrift "Butterfly Hair". Näme der Inhaber diese Bezeichnung beim Wort, hätte der Kunde nach seinem Besuch dort seeeehr weiches Haar, allerdings nur noch in Mikrometerlänge und ganzkörperbedeckend. Naja, Hauptsache schön bunt.
Schon gestern, während der Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel fiel mir eine Autowaschanlage auf, die "Lube" heißt. Lube ist die Kurzform von Lubricant = (u.a.) Gleitmittel. Der Slogan zum Firmennamen lautet (ohne Mist) so: "We are doing it right! Just infront of your eyes." - kein Kommentar.
Inzwischen habe ich auch meine drei Besorgungen im Vorbeigehen getätigt und trotte willkürlich im Piffpaff (weil Zickzack nicht funktionieren kann) durch das Westend zwischen Robson- und Davie Street mit grobem Ostkurs und also wieder das Hotel ansteuernd, denn der Magen meldet zaghaft einen zu befüllenden Hohlraum an. Bald schon stoße ich wieder auf die Hastings Street und gerate so, nach all den Yachthäfen, Schickeriabars und Hochglanz-Einkaufsmeilen unvermittelt in den eingangs beschriebenen, hunderte Meter langen Strom aus Armut und Elend, der mir einen Knoten in den Hals macht und mir nolens kurzfristig die arroganten Spötteleien über "das nicht so feine Hotel" abspült. Ach Du grüne Neune...

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